270. Montagsgespräch
Sprachfetzen an der Zeitkante
Elmar Guantes, Kontrabass
Wilfried Krüger, Horn
Dieter Trüstedt, Computermusik, Chin und Grafik
Hans Wolf, Klavier
Jörg Schäffer, Moderation
Montag 12. April 2010 20 Uhr / Eintritt frei
Carl Orff Auditorium München
Luisenstr. 37a, U-Bahn Königsplatz
Fünftes Montagsgespräch im Rahmen des Projektes MUSIK AUS DEM NIEMANDSLAND in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und Theater München, dem Deutschen Musikrat, dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München und der Echtzeithalle e.V.
dt
Für Spieler und Publikum sichtbar:
Buchstabe, Zeitverlauf und Dauer
Sprachfetzen
steht für ein relativ kurzes Musikereignis spezieller Qualität. Qualität
steht für Beschaffenheit, Eigenschaft, gesteuert von einem Eigenschaftswort,
das die Musik initiiert. Die Spieler haben sich in diese Qualitäten intensiv
eingearbeitet, kennen aber die "Arbeitsergebnisse" der anderen Spieler
nicht. Das bedeutet, dass diese Musik nicht wiederholbar ist, es sei denn, alle
Eigenschaftswörter werden ausgetauscht.
Die Zeitkante
wird dargestellt als Zeitkoordinate mit 26 Markierungen in mittleren Zeitabständen
- Dauern - von 2 Minuten. Jede Markierung besteht aus einem für jeden Anwesenden
sichtbaren großen Buchstaben entlang unseres Alphabetes und der genauen
Dauer der Musik - des Sprachfetzens - an dieser Stelle. Die 26 verschiedenen
Qualitäten der Sprachfetzen werden von 26 Eigenschaftwörtern bestimmt,
die nur die Spieler kennen.
Qualitäten
hier als Beispiel: A = starr - B = in sich - C = bewegt - D = fliessend - E
= stockend - F = dicht - G = locker - H = fast nichts - I = grün - J =
rot - K = sonnig - L = lausig - M = rund - N = kristallin - O = weiss - P =
wolkig - Q = bizarr - R = dick - S = schwarz - T = müde - U = lebendig
- V = martialisch - W = friedlich - X = häßlich - Y = schön
- Z = nervös
(1. Version)
bzw. die 2. Version:
Erinnert an Velimir Chlebnikov - "El das ist der Strahl des Gewichts, gerichtet
auf die Fläche des Kahns" - ca. 1913 -
im Kontext der (späteren) konkreten Poesie.
Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Welimir_Chlebnikow
und http://home.germany.net/100-163279/illeguan/velimir1.htm
Grafik
Das Alphabet, die Zeitdauern und die ablaufende Stoppuhr werden - für die
Spieler und für das Publikum sichtbar - projiziert. Die Abweichungen um
2 Minuten herum werden nach der logistischen Formel berechnet - mit einer maximalen
Schwankungsbreite von 1,5 Minuten. Die gesamte Musikdauer wird ca. 60 Minuten
betragen.
Weitere Vereinbarungen sind:
Die Spieler müssen nicht immer und vor allem nicht sofort spielen, wenn
die Stoppuhr startet. Es kann auch sein, dass keiner spielt. Wenn die Stoppuhr
stoppt, sollte jeder Spieler unmittelbar sein Spiel beenden, den letzten Klang
aber nicht anhalten, nicht dämpfen.
Musik
Die Computermusik basiert auf Chin-Klänge der ersten Komposition. Die Klänge
werden als Samples in ein Computerprogramm übernommen (Pure Data) und mit
der Hand gespielt (Phonem-Musik) und gleichzeitig als Folie (Sequenzer-Musik)
eingesetzt.
Dazu das Horn (elektronisch verstärkt) von Wilfried Krüger, der Kontrabass
von Elmar Guantes und das Klavier von Hans Wolf.
Die Spieler kennen die Begriffe, wie sie den Buchstaben zugeordnet sind - sie
haben aber auch Erweiterungen und Veränderungen vorgenommen - im Sinne
der Autorenmusik.
Diskussion -
nach dem "Konzert" besprechen wir das Ergebnis. Die Spieler diskutieren
mit dem Publikum die Unklarheiten, Eindeutigkeiten, die Vieldeutigkeiten der
Wirkung der Eigenschaftswörter auf die jeweilige Musik. Die Zuordnung der
Eigenschaftswörter zu den Buchstaben werden offengelegt.
Zum Thema Wiederholbarkeit der Musik: Ein einfaches Schütteln, Vertauschen,
der Wortfolge genügt, um ein anderes Musikstück zu erzeugen.
Und es ist anzunehmen, dass das Autorenensemble munter genug ist, nicht nach
Verhaltensklischees zu operieren, wenn sie die Eigenschaftswörter wahrnehmen.
Kommentare
1.
Das Zusammenwerfen von vier verschiedenen Interpretationen auf vier verschiedenen
Instrumenten ist möglich, weil nicht nur der gewählte Klang entscheidend
ist, sondern vor allem die Artikulation, das Setzen und Formen der Klänge,
die Lautstärken, die Dichte, die Wiederholungen, die Positionierung in
den Klängen der anderen Spieler, die Stärke, die Zartheit, die Nähe,
die Ferne, das Fließen, das Aufbäumen.
2.
Die Einflüsse der zugeordneten Eigenschaftswörter oder die Wirkung
der Buchstaben selbst, ihre Aussagequalität, auch die jeweilige Größe
der Dauer auf die entstehende Musik ist nicht festgelegt, sondern entsteht im
Prozess der Musik. Der merkwürdige Strich unten rechts am Q bedeutet vielleicht
die Quelle, die von dem Buchstaben symbolisiert wird, der große runde
Stein und das Quellwasser. Ob diese mögliche Aussage in der Musik umgesetzt
wird, ist offen.
Scheinbar ist der Zusammenhang von Q und Quelle historisch nicht gegeben, ist
aber ganz schön.
Schade, dass auch der Buchstabe W keine symbolisierten Wellen darstellt, sondern
einen ganz anderen historischen Ursprung hat. Aber spielen können wir dieses
Symbol dennoch als Wasser.
3.
Wir wollen ja mit dieser Musikreihe in ein Niemandsland vorstoßen, ein
Zwischenreich, das Niemand kennt, in dem sich Niemand aufhält. Auch geträumte
oder geahnte Aussagen sind erlaubt. Wir können ja anschließend wieder
zum Tagesgeschäft zurückkehren.
4.
Die russischen Futuristen hatten solche Konzepte (Malewitch, Chlebnikov - 1913)
- sie führten später zur konkreten Poesie.
Die konkrete Poesie verwendet die phonetischen, visuellen und akustischen
Dimensionen der Sprache als literarisches Mittel. Diese Form der Literatur möchte
sich nur noch auf ihre eigenen Mittel beziehen: Wörter, Buchstaben oder
Satzzeichen werden aus dem Zusammenhang der Sprache herausgelöst und treten
dem Betrachter konkret, d. h. für sich selbst stehend, gegenüber.
Diese sprachliche Demonstration soll ein Gegenpol zur sprachlichen Reizüberflutung
sein. Sprache hat im "konkreten Gedicht" keine Verweisfunktion mehr.
Die Methode der konkreten Poesie ist eine antipoetische Meditation über
die Bedingung der Möglichkeit der poetischen Gestaltungsweise. Es gibt
kein Gedicht über, sondern nur noch eine Realität des
sprachlichen Produkts an sich.
siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Konkrete_Poesie
dt
Arbeitsplatz, Dieter Trüstedt, München
Pure Data Programm http://puredata.info/
Hermann von Helmholtz, Tonempfindungen, 1913 (1862)
GEM, Graphics Environment for Multimedia, Pure Data,
Velimir Chlebnikov, Poesie - Prosa - Schriften - Briefe, Rowohlt
Chin-Instrument und Vorverstärker
Dokumentation der Aufführung vom 12. April 2010
siehe auch: http://www.echtzeithalle.de/?category=gallery&year=0&dir=mg270
bt
Jörg Schäffer, Moderation der Sprachfetzen, 12. April 2010, Carl Orff
Auditorium München
bt
Partitut des Chin-Computer-Spiels - hier der letzte Buchstabe dieser Aufführung,
das Q
bt
Das Horn von Wilfried Krüger
bt
Hans Wolf, Klavier und Elmar Guantes, Kontrabass in Sprachfetzen, 12. April
2010, Carl Orff Auditorium München
bt
Hans Wolf und Elmar Guantes
bt
Wilfried Krüger, Horn und Dieter Trüstedt, 'Chin-computer in Sprachfetzen,
12. April 2010, Carl Orff Auditorium München
bt
Hans Wolf in Sprachfetzen
bt
Mackie - Mischpult in Sprachfetzen - für Horn und Chin-Computer
Fotos: Bernhard Thurz, bt.
Velimir Chlebnikov (1885-1922)
12. 4. 2010
Luisenstaße und Gabelsbersstraße
Carl Orff Auditorium
bt
Zhanna Karpach-Kalantay liest die Live-Mischrift, d.h.der Text entstand während
der Aufführung, geschrieben vor allem in den Pausen zwischen den Buchstaben.
Live-Mitschrift
Zhanna Karpach-Kalantay
ich bin fast gestorben ... und wiedergeboren
bin wiedergeboren....
gefallen und wieder geflogen !
gelacht und geweint ....
gewonnen und wieder verloren ....
hab gelebt und wieder gestorben ...
ich bin in meiner Phantasie geblieben
was für ein Bruch ...
was für ein Schrei ...
Irrenhaus ... flog dabei ....
und Gott sei Dank ....
bin nicht daneben ...
bin hier und trotzdem ...
niemals dagewesen !
gerade das ist wunderbar !
oh ! Glück das Ganze zu verstehen !
Fühlen ! Hören ! Sehen ! und
selbstverständlich leben !
Für mich ist jetzt Wunder geschehen !
Physisch war ich da und verrate nicht
wo ich mental als Gast gewesen !
Bei N hab eine Pause gehabt ...
und O war sooo begabt ...
wie Schmetterling so zart !
P wie Papa .... so geschnarrcht
und - sorry - lag tot besoffen krank ....
Q mal rot .... mal grün .... mal leise ....
mal einfach still ! mal aggressiv .... und heiser !!!!!