Über die Absichtslosigkeit

Wolf-Dieter Trüstedt


I

Von Martin Walser hörte ich vor kurzem während einer Diskussion mit Joachim Kaiser, daß eine Kunst, die mit Absicht gemacht wird, im allgemeine keine Kunst sei. Diese Art von Kunst sei eher dem Kunstgewerbe zuzuordnen oder der Kunstwissenschaftler Hans Sedlmayr würde vielleicht sagen, eine solche Kunst gehört z.B. zur Kategorie Hotelbildmalerei.

Kann der Mensch überhaupt ohne Absicht handeln?

An mir selbst ist folgendes aufgefallen: Ich werde leicht ungeduldig, wenn ich erahne, auf was jemand hinauswill, sei es in der Kunst, besonders in der darstellenden Kunst oder in einer Diskussion.

Meine zentrale Frage kann ich auch so formulieren: Wie kann ich - vor allem im künstlerischen Bereich - möglichst frei handeln, ohne die Sache schon zu wissen, zu kalkulieren, zu einem Ziel zu zwingen, zu manipulieren etc.

Vielleicht will ich meine Handlungsnetze jeweils möglichst weit auswerfen, so weit, daß ich nur ahnen kann, was alles so auf mich zu kommen wird.

II

Bei befreundeten Künstlern draußen im roten Pfarrhof bei Peterkirchen in Niederbayern hörten wir plötzlich einen wunderbaren Obertongesang. Es war anfangs der siebziger Jahre als das Obertonsingen noch gar nicht in Mode war. Nur von La Monta Young hatten wir in der Galerie Friedrich in München in dieser Zeit Ansätze davon gehört.

Wir waren auf jeden Fall fasziniert und gingen der Sache nach.
Etwas enttäuscht oder überrascht stellten wir fest, daß dieser Gesang ein simples Abwasserrohr war, das auf einer Baustelle knapp aus der Erde schaute und vom Wind gespielt wurde.

Zwei Dinge wurden für uns plötzlich klar: einmal das Musikinstrument selbst und die erstaunliche Modernität der Performance und zum anderen die Art des Spiels:
es war, wie kann es anders sein, ein selbstloses Spiel, wie ich es noch nie gehört hatte. Keine Form von Selbstdarstellung, angestrengtes Könnenwollen, keine Höhepunkte suchend, den Zuhörer vollkommen frei lassend.
Schade war nur, daß dieses Spiel nicht mehr als Kunst bezeichnet werden konnte, da es ja nicht vom Menschen gemacht war.
Oder war es doch Kunst, von einer Qualität, die sich erst in meinem Kopf, in meinem Zuhören und Wahrnehmen, bildete?

III

In der letzten Überlegung sehe ich zwei Phänomene:

1. der Anlaß und
2. die Resonanz in mir.

Zur Demonstration dieses Gedankens möchte ich Ihnen das Spielprinzip der Nay vorführen. Die Nay gehört zu den ältesten Musikinstrumenten der Menschheit. Was früher ein Vogelknochen war, ist heute ein Schilfrohr oder ein Kupferrohr.

Ich spiele jetzt auf diesem etwas verbogenen Wasserleitungsrohr - das ich in diesem Zustand auf der Straße gefunden habe - die Obertöne, wie ich sie damals vor 25 Jahren vom Wind gespielt gehört hatte.

SPIEL DER NAY
(Eine der beiden Öffnungen wird seitlich angeblasen. Es lassen sich ca. 7 Obertöne spielen. Der Klang ist sehr rein, begleitet von einem leichten Rauschen. Dieses Rauschen ist die materielle Seite des Tones. Die Nay wird vor allem in der arabischen Musik gespielt und hier besonders in der Sufi-Musik.)

Für diese Klänge sind die zwei erwähnten Phänomene notwendig:

1. der Wind oder der Atem an der Kante des Rohres - das erzeugendes Prinzip - ein chaotisches Rauschen und
2. die Resonanzfähigkeit des Rohres selbst, das Rohr, das in das Rauschen hineinlauscht.

Es ist bekannt, daß Resonanz nur entstehen kann, wenn etwas leer ist, nicht angefüllt. Die hier angesprochenen Phänomene und die Analogien zu meiner Frage zum menschlichen Handeln sind offensichtlich.
Ich werde darauf noch zurückkommen.

IV

Zunächst ein weiterer Punkt:
der Wirkungsweise des „Fehlers", den ich unter die
chaotischen Prozesse einordnen möchte.

Ich spiele jetzt dieselben Obertöne auf der Shakuhachi, der japanischen ZEN-Flöte:

SPIEL DER SHAKUHACHI
(Die Shakuhachi ist vor ca. 500 Jahren in Japan im Fuke-Kloster entstanden. Sie ist aus Bambus und hat 5 Spiellöcher. Sie hat kein Mundstück. Der Atem trifft direkt auf eine geschärfte Schnitt-Kante. Dadurch ist der Klang erstaunlich frei gestaltbar.)

Die Spiellöcher der Shakuhachi hatte ich bei diesem Spiel nicht geöffnet. Wichtig für mich war jetzt das Brechen und Flackern des Grundtones und der Obertöne an den Rändern

- beim Entstehen des Klanges
- und beim Verklingen des Klanges.

Diese Unschärfen - wir können auch westlich orientiert sagen: Unsicherheiten, Ungenauigkeiten - sind beim Shakuhachi-Spiel entscheidende Wegweiser des nächstfolgenden Spielens.

(ZEN Kalligraphie: Kreis und Shakuhachi-Spieler)

Beim Shakuhachi-Spiel haben wir eine gegenüber dem abendländischen Musikverständnis konträre Haltung:
ich höre beim Spielen dem Instrument zu; nicht ich bin es, der spielt, sondern die Shakuhachi spielt; nicht ich bin es, der möglicherweise gut spielt, sondern das Instrument spielt gut; die Brechungen beim Einschwingen und Ausklingen sind keine Fehler, sondern Hinweise für das weitere Spiel; ich muß vor allem sehr gut und offen zuhören.

Es heißt in den klassischen Texten:
Der Spieler, der geschickt oder gut spielen will, ist in
Wirklichkeit ein schlechter Spieler.

Diesen Satz kann ich aber nicht umkehren! Denn die Absichtslosigkeit, das aufmerksame Freibleiben, läßt sich nicht erzwingen, allenfalls durch Übungen meiner inneren Haltung annähern.

V

Um in diesem Diskurs über die Absichtslosigkeit auf ein Parallelthema zu verweisen:

- es ist die Ähnlichkeit mit chaotischen Prozessen
- und den begleitenden Resonanzphänomenen.

In der Art-Lecture über das „Terzenfeld", die wir morgen in der Musischen Werkstatt der Universität Ulm vorführen werden, verwenden wir als Musikinstrumente einfache Papprohre, Versandrohre, mit z.B. einem Durchmesser von 10 cm und der Länge von 1 Meter.

Ich möchte noch verraten, daß in diesen Rohren an einer Stelle ein einfaches Kupfernetz eingefügt ist. Wenn ich dieses Netz mit einer Flamme erwärme, dann beginnt nach einer kurzen Zeit das Rohr an laut zu klingen, in einem klaren Ton der Tonhöhe E, der ungefähr ein halbe Minute anhält - ohne Flamme, einfach so.

Die Erklärung ist:
die chaotische Fluktuation der Luft durch die Wärme an der Stelle des Netzes bringt den Resonanzraum des sonst vollkommen leeren Rohres zum Schwingen. Wichtig ist also bei diesem Phänomen die chaotische Bewegung der Luft und die Resonanz des Rohres. Die Tonhöhe ist natürlich von der Rohrlänge linear abhängig.

ln der chaotischen Bewegung sind alle möglichen Schwingungen enthalten, auch die Schwingung, die das Papprohr zum Schwingen braucht. Ich kann auch sagen:
das Papprohr nimmt alle Schwingungen wahr, holt sich seine eigene mögliche Schwingung heraus, indem es für alle und auch seine spezielle Schwingung offen ist, frei ist, und schließlich zu klingen beginnt.

VI

Wenn ich weißes Rauschen, zum Beispiel das Rauschen des elektrischen Stromes in einem Widerstand, an der Stelle des Tones E betrachte, sehe ich einen reinen Sinuston mit der Frequenz des Tones E. Ich versuche hierbei die chaotische Situation, wie sie sich im weißen Rauschen zeigt, auf die Bandbreite eines einzelnen Tones zu begrenzen. Es scheint so, daß das „Chaos ausweicht" auf eine andere Form: ich entdecke, daß der reine Sinuston E zeitlich nicht konstant ist, sondern extrem flackert - seine Amplitude ist in der Zeit chaotisch.

Der Klang dieses heftigen Flackerns des Tones E ist sehr schön, es hat etwas mit der Feinstruktur des Windes zu tun.

Ich möchte Sie bitten an dieser Stelle einen Analogieschluß mitzuvollziehen: es geht um den Begriff „Erosfaktor".

Was meinen die Griechen in ihrer Schöpfungsmythologie, wenn sie von Chaos und Eros sprechen bei der Entstehung der Welt. Wie ist das Zusammenwirken von dem ursprünglichen Chaos und dem, ich könnte sagen, darauf angewendeten Eros?

Ich will nicht verheimlichen, daß ich den Begriff „Erosfaktor" im Internet entdeckt habe:
Die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn hatte in diesem Frühjahr ein Symposium zum Thema „Sinn der Sinne" abgehalten. Es war auch ein Vortrag von Josephine Grieve aus Amsterdam angekündigt mit dem Titel: Renaissance of the Imagination: the Eros Factor.

Josephine Grieve hatte vor - sie war leider wegen Krankheit verhindert - über Giordano Bruno zu sprechen und seinen Übungen der Einbildungskraft und der Gedächtsniskunst. Giordano Bruno wollte damit dem erfinderischen Geist eine strukturierte Grundlage geben.
Grieve schließt ihre Vorankündigung mit dem Satz:

Giordano Bruno behauptet, daß Einbildungskraft und Phantasie für Philosophie, Religion, Politik und Ethik tatsächlich ebenso grundlegend sind wie für Kunst und Literatur.
Ich selbst möchte die Wissenschaft hinzufügen, wenn die Wissenschaft sich anschickt unbekanntes Terrain zu betreten.

Ergänzend hierzu die Aussage von Albert Einstein:

Die Vorstellung, die Imagination, ist wichtiger als das Wissen.

Ich hatte diesen Abschnitt mit den Begriffen Chaos und Eros begonnen und möchte jetzt formulieren, daß das Verhalten, das mit Eros beschrieben wird, eine Art Hinauswerfen von Strukturen, von Wahrnehmungs- und Imaginationslinien und - netzen ist, in ein chaotisches, d.h. in ein unbekanntes, nichtstrukturiertes System, in ein System, das noch ungestaltet ist.

Dieses Auslegen bzw. Hinauswerfen oder Vorauswerfen bewirkt eine Art Formung des Unbekannten oder Zukünftigen.
Da mir aber das Feld vor mir vollkommen unbekannt ist, muß ich, wie das chaotische Fluktuieren der Wärme im beschriebenen Rohr, für alles offen bleiben, was auf mich zurückkommt.
Diesen Versuch einer Interpretation des Begriffs „Eros Factor" kann ich nicht und will ich jetzt auch nicht weitertreiben.

Warum nicht?

VIII

Ich kann statt einer Antwort eine Analogie anführen:

Die - seit den Arbeiten von Feigenbaum berühmte -Chaos-Formel

x —> k * x * (1-x)

eine mathematische Rekursionsformel, scheint fluktuierend 4 Lösungen anzudeuten, wenn ich zum Beispiel k = 3,74 setze. Bei diesem k-Wert sehe ich ein lebendigen Hin- und Herspringen der Werte von x.
Um so direkter sich die Werte einer der möglichen Lösungen nähern, um so mehr scheint die nächstfolgende Lösung diesem Wert zu fliehen.
(Ausschnitt aus einem Entwurf für ein Lichtkunstobjekt von mir, Berlin, Tempelhofer Damm, 70 x 190 cm, Edelstahl mit 1300 geschliffenen Kristallen, verteilt nach der Chaos-Formel.)


Wenn ich z.B. diesen scheinbar chaotischen Lösungen Tonhöhen zuschreibe, entsteht eine absichtslose Musik. Sie ist erstaunlich angenehm anzuhören - ein chaotische aber nicht beliebige Musik.

Zur Klärung werde ich jetzt noch 2 oder 3 Gedanken und eine kleine Liste von Übungen zur Absichtslosigkeit bringen.

IX

Vor 6 Jahren habe ich mit Jörg Schäffer, promovierter Bio-Chemiker und heute auch Künstler, ein Rating durchgeführt über 150 verschiedene

„mögliche Denkhaltungen beim Wahrnehmen und Verstehen der Wirklichkeit".

Die Befragten sollten diese 150 Denkhaltungen in ein Raster einsortieren, ein Raster, das aufgespannt war in die Polaritäten

subjektiv - objektiv und senkrecht dazu
intuitiv - diskursiv.

(Ausschnitt aus dem Rating, Trüstedt/Schäffer, 1991, zur Frage nach 150 möglichen Denkhaltungen beim Wahrnehmen und Verstehen der Wirklichkeit. Hier der Bereich um das Wort absichtslos.)



Das Ergebnis des Ratings bringt die „absichtslose" Denkhaltung in die Nähe der Eigenschaftsworte

innovativ, erkundend, vorstellend, erfinderisch, ganzheitlich etc.

Diese Haltung ist nicht weit entfernt von den Worten

frei, vergessend, demütig etc.

Es besteht also eine Ähnlichkeit unter diesen Worten, sie erinnern an die notwendige Haltung beim Spiel der Shakuhachi.

Ich will nicht verheimlichen, daß die Worte

kognitiv, konstruktiv, realistisch, wissenschaftlich etc.

weit entfernt von "absichtslos" ganz im Bereich des Diskursiven und Objektiven liegen.

Was bedeutet das?

Ich glaube nicht, daß dieses Ergebnis selbstverständlich ist.

Das Ergebnis beschreibt zwei sehr verschiedene Verhaltensweisen des Menschen, die aber sehr wohl in ein und dem selben Menschen zu Hause sein können und wohl auch sein sollten.

Sagen will ich damit - besonders in einer naturwissenschaftlich orientierten Universität - daß ein Verhalten, das man innovativ nennen könnte, mit begleitenden „riskanten" Eigenschaften einhergeht, zu denen man bzw. frau stehen muß, wenn Innovation und unkonventionelles Denken gefragt ist.

Diese Eigenschaftsworte lauten z.B.

umherschweifend, chaotisch, anarchisch, irrational, absichtslos, spielerisch etc.

Denn wie sonst kann der Mensch sich öffnen und ohne Vorurteile wahrnehmen - oder wie der Osten sagt: leer sein ?

X

Ein indonesischer Freund erzählte mir von den drei Gottheiten in Indien:
- Brahman, der Schöpfergott,
- Vishnu, der Gott für Recht und Ordnung und
- Shiva, der Gott der die Welt zertanzt und der
gleichzeitig heilbringend ist.

Die Interpretation geht dahin, alle drei Prinzipien zuzulassen und nicht nur z.B. das mittlere Prinzip, das Strukturen festlegt, gelten zu lassen.

XI

Interessant ist hierbei auch das Prinzip des Zerstörens:
In der Forschung der künstlichen Intelligenz mit Computern ist bekannt, daß in den künstlichen Gehirnen immer wieder die eingefahrenen Strukturen durch ein eingeleitetes Rauschen zerstört werden müssen, was mit dem Prinzip des Vergessens, des Leermachens, gleichgesetzt werden kann.
Also das Prinzip „Shiva", das Zertanzen, auch wenn es oft schwer fällt oder mißverstanden wird.

Im künstlerischen Schaffen ist es auch das Brechen einer Struktur, ohne dem das Kunstwerk nicht funktioniert bzw. in Gang kommen kann.

Dieses Brechen ist bekannter Maßen auch im intellektuellen Diskurs notwendig.
Auch die farbige Schönheit des weißen Lichtes entdecke ich erst, wenn ich es im Prisma breche.

XII

Im Folgenden möchte ich nun einige Übungen zur Absichtslosigkeit aufzählen und kurz erläutern:

- In der Musischen Werkstatt der Universität Ulm findet wöchentlich am Donnerstag um 17 Uhr ein Taumeltanz statt, ein Tanz ohne Regel, es sei denn das Loslassen oder Tanzen wie ein Betrunkener ist die Regel. Es ist ein Tanz der das Hirn auflockert und den Körper von Verkrampfungen befreit.

- Beim Spielen der Shakuhachi als ZEN-Übung wird die Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was auf mich zukommt.
Als Anfang ist es gut, nur den Grundton zu spielen, zum Beispiel 20 Minuten lang. Die Spiellöcher bleiben dabei zu.
In diesem Dezember findet ein Baukurs und eine Einführung zu diesem Musikinstrument statt.

- Dann gibt es die Übung des Singens - das Mönch-Singen. Es ist ein Mantra von nur 45 Sekunden Länge, das immer wiederholt wird. Von diesem Gesang geht eine merkwürdige Kraft des Zentrierens aus. Auch das kann in der Musischen Werkstatt dieser Universität gelernt werden. Vielleicht werde ich es mal in der psychotherapeutischen Studentenberatung anbieten. Warum nicht?

- Wer will, kann auch wie Giancinto Scelsi, immer den gleichen Ton spielen, wissend, daß ich auch auf dem Klavier niemals einen Anschlag wiederholen kann.

- Oder die Vexations von Erik Satie spielen, die 840 mal wiederholt werden sollen. Diese Vorgabe wird heute als Kunstform angeboten, es war aber wohl nicht so gemeint.

- Oder täglich Kreise zeichnen, wie in der ZEN-Übung der Kalligraphie. Hierbei fiel mir auf, das die Vorstellung eines Kreises, bevor ich ihn zeichne, hilfreich ist - Vorstellung im Sinne von Imagination. Ich werde nie einen Kreis wiederholen können. Der jeweilige Kreis offenbart meine momentane Situation, meine Verfassung.

- Dann gibt es die religiöse Tradition des Rosenkranzbetens. Es ist ein erprobtes Ritual, in dem durch ständig wiederholendes Tun desselben, festgefahrene Situationen geöffnet oder gelöscht werden.

- John Cage verwendete das l Ging als Methode zur Absichtslosigkeit. Cage war ein Spezialist im Mißtrauen auf eigene, konditionierte Vorlieben des Gefallens. Um sich davon zu befreien, befragte er das l Ging oder lies den Computer Zufallsentscheidungen treffen.

- Eine gute Übung ist auch die der amerikanischen Komponistin Pauline Oliveros, den Hörübungen. Bei diesen Übungen ist es vor allem wichtig, die Ohren aufzumachen und alles zu hören, was zu hören ist, ohne wertend einzugreifen; nur dasitzen und hören. Auch das praktizieren wir hin und wieder in der Musischen Werkstatt dieser Universität.
Es ist erstaunlich, wie weit man oder frau hören kann, viele Kilometer weit.
Nach ca. 15 Minuten fängt unser Kopf an, die zufälligen Geräusche um uns herum zu ordnen und zu kleinen Kompositionen zusammenzufügen.

- Es ist sicher auch gut, absichtslos in Arno Schmidts Typoskriptwerk „Zettels Traum" lesen, um den Kopf zu durchschütteln und dadurch von festgefahrenen Mustern zu befreien. Geeignet dafür ist auch das Buch Ulysses von James Joyce.

- Ich erinnere auch an eine Stelle aus Heinrich von Kleists „Über das Marionettentheater": es wird eine Fechtübung zwischen einem Bären und einem Menschen geschildert. Der Bär bleibt unbewegt bei jeder absichtlich ausgeführte Finte des Fechters, reagiert nur bei den „ernsthaften" Stößen und gewinnt so den Kampf durch eine Art vollkommener Aufmerksamkeit.

- Zum Schluß noch vier Zeilen vom 22-jährigen Rainer Maria Rilke aus dem Sommer 1861 in Wolfratshausen bei München:

Näher an das Absichtslose
sehnen wir uns menschlich hin;
laß uns lernen von der Rose
was du bist und was ich bin.

Ich möchte hiermit den Exkurs beenden und bin sehr neugierig auf Ihre Anregungen.

Wolf-Dieter Trüstedt, 22. Oktober 2000, Universität Ulm


Erste Veröffentlichung in
FRA ORDINE E CAOS
CONFRONTI DELLA RICERCA
Goethe-Institut Rom
Universita di Roma "La Sapenza"
18. November 1994

Zweite Veröffentlichung in
2. Internationales Künstlersymposium Ulm, Prognose und Parallelogramm - Kunst und Wissenschaft im Jahr 2000, Universität Ulm - Stadt Ulm - Ulmer Kunststiftung, Seite 121

Jetzt veröffentlicht in
kunst.zeit.schrift  ES
Ausgabe 3/2009
Herausgeber: Hakan Dagistnli